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AUSFLÜGE IN MITTLERE JAHRE

 Erkenntnisse aus der Lektüre einiger US-Marvels aus dem Jahr 1980

von Peter L. Opmann

  

  
Nur der Williams Verlag hat in der langen Geschichte von Marvel-Veröffentlichungen in Deutschland, die 1966 mit den HIT-Comics des Bildschriften Verlags beginnt, Superheldenserien streng chronologisch ab der Origin-Ausgabe veröffentlicht. Nur Sonderausgaben wie die Annuals wurden in der Regel ausgelassen. In dieser Veröffentlichungsweise wird zurecht einer der besonderen Vorzüge des Verlags gesehen, wenn auch Jüngere, die Marvel erst durch neuere Ausgaben kennen gelernt haben, inzwischen darin einen Nachteil sehen – sie finden die alten Marvel-Hefte „schlecht gezeichnet“, was meiner Ansicht nach höchstens teilweise zutrifft.

Folge der speziellen Veröffentlichungsweise von Williams war, dass der Soap-Opera-Charakter der Serien richtig zur Geltung kommen konnte: Man erlebte alle Verwicklungen und Schicksalsschläge im Leben der Helden chronologisch mit. Mit der Einstellung der „Spinne“ 1979 war dieser Effekt ein für allemal perdu. Condor setzte zwar nach wenigen Monaten die „Spinne“ als Heftserie fort, aber nicht nur wurden dabei 14 Ausgaben ausgelassen, der Verlag unterbrach die Stammserie „The Amazing Spider-Man“ auch immer wieder durch recht willkürliche Einblendungen aus der Reihe „Marvel Team-Up“ und anderen Serien, so dass es schwierig wurde, die Soap-Opera weiter zu verfolgen.

Wie wichtig es war, neben den Superhelden-typischen Konflikten auch die Geschehnisse im Privatleben der Helden und ihres Umfelds zu beachten, wurde mir zum ersten Mal im Frühjahr 1980 vor Augen geführt. Damals unternahm ein Onkel von mir als Tourist eine längere USA-Reise. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu bitten, mir einige US-Marvels mitzubringen. Auf redaktionellen Williams-Seiten hatte ich erfahren, dass es dort erheblich mehr Serien gab, als in Deutschland veröffentlicht wurden. Ich schrieb ihm einen langen Wunschzettel, auf dem ich auch Serien wie „The Eternals“ oder „Howard the Duck“ vermerkte. Zudem wies ich ihn darauf hin, dass es in USA quasi an jeder Ecke eigene, große Comicläden gäbe, wo er mir die Hefte besorgen könne. Ich selbst bin allerdings bis heute nie in den Staaten gewesen.

Mein Onkel brachte mir von seiner Reise tatsächlich einen größeren Stapel US-Marvels mit. Wie er sagte, hatte er freilich eine Weile gebraucht, bis er auf einen Comicladen stieß. Dann fand er schließlich einen, der offenbar so groß war, dass er völlig hilflos vor den langen Regalreihen stand und sich von einem Verkäufer helfen lassen musste. Auf diese Weise kam ich zu etlichen US-Heften der Veröffentlichungsmonate Mai und Juni 1980. 
Die letzte Williams-Serie, „Die Spinne“, hatte allerdings mit Material aus dem Jahr 1974 geendet, die an-
deren Serien wie „Fantastische Vier“, „Rächer“, „Hulk“ oder „Der Eiserne“ noch wesentlich früher. Die Su-
perhelden-Soaps hatten sich in der Zwischenzeit weiter entwickelt. Dieses Problem wurde mir dann beim Lesen bewusst.

Ich will hier einen Rückblick auf einige US-Comics werfen, die für mich eine interessante Erfahrung in Be-
zug auf die Marvel-Phase des Williams Verlags bedeuteten. Kurz gehe ich auf die Ausgaben ein, die in Deutschland nicht veröffentlicht wurden und von denen ich mitunter überhaupt nichts gehört hatte, nämlich "Captain America" # 245, "The Micronauts" # 18, "Star Trek" # 3, "Marvel Premiere featuring Caleb Hammer" # 54 und "Howard the Duck Magazine" # 5. Danach gehe ich ausführlicher auf die für das Thema des Aufsatzes wichtigen Serien "Doctor Strange" # 41, "Thor" # 295, "Fantastic Four" # 218, "Iron Man" # 134, "The Amazing Spider-Man" # 204, und ein. 
Den Artikel widme ich dem Andenken an meinen Onkel Hans, der am 27. Oktober 2008 im Alter von 96 Jahren gestorben ist.

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1980 bin ich 15 Jahre alt geworden. In meiner Familie ist meine Comicbegeisterung – mit der ich relativ allein dastehe – immer mit etwas Skepsis beäugt, aber toleriert worden. Ich bin sicher, dass mein Onkel in USA keine Marvels selbst für mich ausgesucht hat, sondern dem Händler meine Wunschliste reichte und dann wahrscheinlich sagte: „Legen Sie für soundso viel Dollar noch ein paar Hefte drauf.“ So bin ich in den Besitz von „Caleb Hammer“ gekommen, eine „Marvel Premiere“-Ausgabe, die ein Oneshot geblieben ist. 
Nur in der vierbändigen Miniserie "Blaze of Glory" (2000) taucht die Titelfigur, ein Pinkerton-Detektiv, noch einmal neben anderen Marvel-Westernhelden auf. Der vorliegende Marvel Premiere-Band ist von dem bereits 1982 verstorbenen Gene Day (damals mir noch nicht bekannt) recht ambitioniert, aber nicht wirklich spektakulär gezeichnet. Die Story von Peter Gillis ist Western-Standardkost, freilich härter als Marvel-Western wie „Rawhide Kid“ oder „Two-Gun Kid“.

Die „Micronauts“ brachten es immerhin auf etwa 60 Ausgaben. Die Serie folgt einer Sammlung von Action-Figuren, die zunächst in Japan und dann in USA erfolgreich vermarktet wurden. Es geht um eine an ein Superheldenteam erinnernde Raumschiffbesatzung, deren Mitglieder jeweils knapp zehn Zentimeter groß sind. Das Heft dürfte meine erste ausführliche Begegnung mit dem Zeichner Howard Chaykin gewesen sein, Inker war Al Milgrom. Die Panelaufteilung ist nicht allzu ungewöhnlich, wirkte damals auf mich aber sehr futuristisch.

„Star Trek“ ist die Adaption des ersten Kinofilms von Regisseur Robert Wise, die mit diesem dritten Band abgeschlossen wurde. Danach spann Marvel die Story selbst weiter. Zeichner war der kürzlich verstorbene Dave Cockrum (bekannt vor allem für seine „X-Men“-Arbeit), Inker Klaus Janson. Letzterer macht aus dem Band ein für Marvel-Verhältnisse überdurchschnittliches Comicheft.

Kein Unbekannter war für mich natürlich "Captain America". Allerdings kannte ich ihn nur als Rächer-Mit-
glied und –Anführer, nicht dagegen seine eigene Heftserie, auf die ich sehr gespannt war. Die vorliegende Ausgabe war ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich wusste, dass Cap mit Vorliebe gegen Nazi-Bösewichter kämpft, und das tut er auch hier. Aber es handelt sich nicht um einen Superschurken wie Red Skull. Autor Roger McKenzie versucht stattdessen, sich der Historie anzunähern, und konstruiert eine Begegnung einer ehemaligen jüdischen KZ-Gefangenen mit einem Lagerarzt. Zudem tritt ein Nazijäger auf. Selbst Cap wird für volle sechs Seiten aus der Story ausgeblendet, während Erinnerungen ans KZ wach werden und das Wiedertreffen von Täter und Opfer sich anbahnt. Am Ende verhallt die Mahnung des Superpatrioten ungehört, dass Selbstjustiz nicht rechtsstaatlichen Prinzipien entspricht. Aber der selbst tödlich verwundete Nazijäger ist schneller als die jüdische Frau, während der KZ-Arzt mit den Worten „Forgive me please…“ in die Brust getroffen niedersinkt. 
Keine typische Superhelden-Story, aber den Klischees entkommt sie dadurch auch nicht. Unbekannt war für mich auch Zeichner Carmine Infantino, einst Silver Age-Pionier bei DC. Irgendwie entsprachen seine Manierismen nicht dem, was ich von Marvel gewohnt war, und obwohl ich sonst Zeichner mit einem klar wiedererkennbaren Stil schätze, hatte ich mit ihm Schwierigkeiten.

Der ungewöhnlichste Comicband, den mir mein Onkel mitgebracht hatte, war das „Howard the Duck“-
Magazin # 5. Damals erschienen mehrere Serien in diesem Schwarz-Weiß-Format, darunter „The Savage Sword of Conan“ und „Hulk“. Die Satiren von Bill Mantlo, umgesetzt von einem meiner Lieblingszeichner, Gene Colan, und von dem mir bis dato unbekannten Michael Golden, waren auf einem viel höheren Niveau, als ich das von den sonstigen Heften gewöhnt war. 
Goldens Dracula-Parodie war hervorragend gezeichnet: Sein klarer, aber sehr detailreicher und eleganter Zeichenstil sprach mich sofort an. Mit der anderen Geschichte namens „Captain Americana“ bin ich etwas später noch groß herausgekommen. Am Ende des Englisch-Kurses durften wir eigene englische Lektüre mitbringen und vorstellen. Mein Englischlehrer war zuerst äußerst skeptisch, als ich ein Comicheft anschleppte. Aber die Geschichte der super-amerikanischen Familie, in deren typischer Vorortvilla ein Porträt von Joseph McCarthy hängt und die schnell den Fehler einsieht, den Ausländer Howard als Babysitter engagiert zu haben, fand er dann zu seiner Überraschung ganz schön anspruchsvoll. Im Unterricht seien wohl gar nicht alle Feinheiten vermittelbar, meinte er, und ich platzte fast vor Stolz.

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Nun zum Kern der Sache. Durch einige der Hefte, die mir mein Onkel mitgebracht hatte, bekam ich auch Einblick in Serien, die ich aus der Williams-Zeit kannte. Obwohl ich die jeweils aktuellen Ausgaben in der Hand hielt, war es für mich ein Sprung in die Zukunft, eine Begegnung mit Serienverhältnissen, die sich seit meinem letzten Besuch jeweils um mehrere Jahre weiterentwickelt hatten. Mir war das bewusst. Wie ich auf die Veränderungen reagieren würde, konnte ich vorher natürlich nicht wissen.
 
  

DOCTOR STRANGE. MASTER OF THE MYSTIC ARTS # 41

 
Doctor Strange hat eine eigentümliche Publikationsgeschichte. Erdacht wurde die Serie 1963 von Stan Lee   und Steve Ditko und lief zunächst unter dem Titel „Strange Tales“ bis 1968. Nach einigen Versuchen, sie nach schwachen Verkaufszahlen neu zu positionieren, wurde die vorliegende Serie „Doctor Strange (Vol. 2)“ kreiert, die von 1974 bis 1987 erschien, allerdings wohl stets nur zweimonatlich. Das Material für Williams´ "Doktor Strange", der es bekanntlich nur auf zwölf Ausgaben brachte, stammt aus der Vorgängerserie „Doctor Strange (Vol. 1)“, die die Numerierung der älteren „Strange Tales“-Serie fortgeführt hatte. Das Material für die Williams-Zweitstorys wurde jeweils den „Strange Tales“ entnommen.

Wegen der Veröffentlichungsweise und der Tatsache, dass „Doctor Strange (Vol. 2)“ auch in USA erst 1974 gestartet war, war der Sprung in die Zukunft in diesem Fall nicht sehr groß. Etwa 20 Hefte waren seit dem Williams-Ende erschienen. Bei Doctor Strange ist allerdings der Soap-Charakter wenig ausgeprägt – trotz wiederholter Crossovers lebt Doctor Strange auch quasi in seiner eigenen Marvel-Welt. Außerdem hatte ich Williams in der Expansionsphase gar nicht gelesen und den Zauberdoktor erst durch die Superbände teilweise kennen gelernt. In diesem Heft war also für mich wenig vom Zeitsprung zu bemerken.

Außerdem ist es auch eine sehr Einsteiger-freundliche Ausgabe. Kurz nach dem dramatischen Beginn, bei dem der Magier mit dem Tod konfrontiert ist, folgt ein etwa zweiseitiger Rückblick auf die Geschehnisse der vorangegangenen drei Ausgaben. Man ist also gleich gut orientiert. Der Rest der Story ist ein Zweikampf mit einem der ältesten von Stranges Gegnern, Baron Mordo, der die „Chaos-Tore“ öffnen und dann für immer über die vom Chaos heimgesuchte Erde herrschen will. Doctor Strange hält ihn davon teils mit bloßer Muskelkraft ab. 
Die recht simple Geschichte von Chris Claremont wird von Gene Colan in gewohnter Qualität ins Bild ge-
setzt. Da aus den Chaos-Toren eine seltsame Hand herausgestreckt wird, die angekettete Menschen in Skelette verwandelt, und das unheimliche Man-Thing mitwirkt, erinnert die Optik mehr an Horrorcomics (etwa Colans „Dracula“) als bei Doctor Strange sonst üblich.

 
 

THE MIGHTY THOR # 295

 
Thor debütierte in # 83 des Magazins "Journey into Mystery" (JIM). Ab # 126 wurde die Serie in „The Mighty Thor“ umbenannt. Bei Williams erschien er nach 33 Thor-Ausgaben noch bis US-Thor # 150 als Zweitstory in „Die Spinne“. 
Nun sind wir fast 150 Ausgaben weiter. Trotzdem fiel mir auch in diesem Fall der Einstieg nicht allzu schwer, abgesehen davon, dass ich den Zeichner Keith Pollard nicht kannte. Pollard ist wohl der erste Künstler der zweiten Generation bei Marvel, den ich wahrgenommen habe. Er zeichnet in einem wenig eigenständigen Stil, sondern ahmt im Wesentlichen John Buscema, ein bisschen auch Jack Kirby nach, die ja beide auch langjährige und wichtige Thor-Zeichner waren. Der epigonenhafte Stil Pollards begegnet uns unten auch noch bei Spider-Man. Damals war ich von diesem Zeichner ziemlich enttäuscht, heute kann ich seine Detailfreudigkeit und Sorgfalt (sicher auch maßgeblich unterstützt von dem Inker-Veteranen Chic Stone) eher schätzen.

Die Frage, ob die Thor-Welt nach so vielen Heften noch verständlich ist, stellt sich überraschenderweise gar nicht. Im Grunde befinden wir uns hier nicht in der Marvel-Thor-Welt, sondern in der Siegfriedsage, wahlweise auch in Richard Wagners Ring-Tetralogie, obwohl zumindest bei Wagner nicht Thor/Donner, sondern Odin/Wotan im Mittelpunkt steht. Die Riesen Fafner und Fasolt haben dem Göttervater die Burg Walhall gebaut und erhalten dafür als Lohn den Ring. Dass Thor, bei Williams gern „Goldlöckchen“ genannt, der Held dieses Hefts ist, merkt man vor allem daran, dass er vorher ausgiebig mit den Riesen raufen darf. Damals inszenierte gerade Patrice Chereau gerade in Bayreuth einen umstrittenen sozialkritischen „Ring“, was ich via TV auch mitbekam. Die „Thor“-Ausgabe hatte für mich damit etwas von den „Illustrierten Klassikern“. Die US-Leser haben beim „Ring of Power“ möglicherweise eher an „Star Wars“ gedacht…

 
 

FANTASTIC FOUR # 218

 
Noch ein Epigone. Im Gegensatz zu Keith Pollard imitiert FF-Zeichner John Byrne allerdings keine Bilder aus klassischen Marvels. Er amalgamiert das Schaffen vieler Vertreter früherer Perioden zu einem gleichsam allgemeingültigen Marvel-Stil. Mir kam diese Optik damals trotzdem ziemlich fremd vor, weil für mich die FF/FV extrem vom prägnanten Stil Jack Kirbys geprägt waren. Dem hatten sich in den späten Williams-Ausgaben auch John Buscema und John Romita ziemlich angepasst. Bei Byrnes Artwork kommt Kirby dagegen nicht mehr so recht zum Tragen. 

Auch inhaltlich irritierte mich so manches: Da gab es also offenbar eine Serie namens „Peter Parker, the Spectacular Spider-Man“, denn aus der wurde die vorliegende Episode fortgesetzt. Parker hatte dort ein Date mit einem Mädchen namens Debra Whitman – bei Williams hatte er nach dem Tod von Gwen Stacy gerade erst begonnen, die Fühler nach Mary Jane Watson auszustrecken. Die Frightful Four, die ich sehr wohl kannte, haben offenbar die Zusammenarbeit mit Medusa – zwischenzeitlich durch ihre Schwester Crystal mit den FF verwandtschaftlich verbunden – beendet und stattdessen Electro in ihre Reihen aufgenommen. Bei den FF selbst sind in dieser Ausgabe keine Veränderungen festzustellen, obwohl es sie gegeben hat. 
Bei Williams endete die Serie übrigens mit „Die Fantastischen Vier“ # 124 (das ist FF # 127), also etwa 90 Ausgaben oder mehr als sieben Jahre früher.

Ein großer Serien-Check-Up durch Byrne stand allerdings Mitte 1980 noch bevor. Die Storyline dieses Hefts ist geradezu klassisch: 
Die Frightful Four versuchen immer, das FF-Hauptquartier, das Baxter Building, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Und sie gehen immer nach einem Plan des Quartett-Anführers, des Wizards (bei Williams: „Zauberer“), so vor, dass sie die FF einen nach dem anderen überrumpeln und gefangen nehmen. Bis am Ende, kurz bevor sie am Ziel sind, einer der FF sich befreien kann und die Niederlage abwendet. Genau das passiert auch hier. Die Variation des Themas in dieser Story von Bill Mantlo besteht darin, dass die Frightful Four zuerst Spider-Man in ihre Gewalt bringen und der Trapster (bei Williams „Kleisterpeter“) in einem Spider-Man-Kostüm – also in der Maske des Freundes – den Angriff auf die FF startet. 
Leider habe ich keine genaue Erinnerung daran, welchen Eindruck ich beim ersten Lesen 1980 von diesem Abenteuer gewonnen habe – es scheint jedenfalls kein besonders tiefer gewesen zu sein, auch nicht von John Byrne.

 
 

THE INVINCIBLE IRON MAN # 134

 
Nach ihrem Start in "Tales of Suspense" # 39 (1963) mußte sich unser Eiserner das Heft lange mit Captain America, dann kurz mit dem Sub-Mariner teilen, bevor Iron Man 1968 sein eigenes Heft erhielt. Obwohl die Serie „Der Eiserne“ bei Williams nach zwölf eigenen Ausgaben noch eine ganze Weile als Zweitstory bei den „Rächern“ weiterlief, war bereits mit „Tales of Suspense“ # 86 Schluss, 13 Ausgaben vor dem Ende dieser Reihe. Ich hatte etwa 13 Jahre „Iron Man“ verpasst, als ich das vorliegende Heft aufschlug.

Diese Serie hatte mit der, die ich von Williams her kannte, nur noch recht wenig zu tun, wenn auch der Anfang durchaus vertraut wirkte: Iron Man testet bei Stark Industries seine Rüstung, taucht aus einem Flammenmeer auf oder lässt sich mit tödlichen Strahlen und Schallwellen beschießen. Etwas Derartiges hatte ich schon einige Male gesehen, allerdings eher bei den Rächern als in der Originalserie. 
Ganz anders als in meinem Gedächtnis wirkte aber allein Tony Starks Rüstungskonzern. Zu Don-Heck-
Zeiten, als der Firmenchef im Wesentlichen mit seiner Sekretärin Pepper Potts und seinem Fahrer Happy Hogan zusammenarbeitete (die hier beide überhaupt nicht auftauchen), machte der Betrieb eher den Ein-
druck eines aufstrebenden kleinen Familienunternehmens. Jetzt sieht man repräsentativen Luxus in Starks privaten Räumlichkeiten, und eine Haushälterin namens Mrs. Abrogast fungiert offenbar zugleich als seine Assistentin, als sie ihn an anstehende Termine erinnert.

Tony Stark als Playboy: Das wurde in der Frühzeit schon angedeutet, nein, besser: behauptet. Pepper musste sich um ihren angehimmelten Chef nicht wirklich Sorgen machen. Nun aber telefoniert er mit einer Frau namens Beth, die mir bis dato völlig unbekannt war. Im Club, den er mit ihr aufsucht, wird er von einer reichen Firmenerbin offensiv angeflirtet, während er selbst einem Mädchen namens Ling, die offenbar mit Beth zusammen wohnt, reichlich zweideutige Komplimente macht. Überhaupt nehmen diese Einblicke in Tony Starks Privatleben auffällig viel Raum ein.

Was mich aber am meisten überraschte, waren einige Hinweise, dass Stark anscheinend eine schwere Alkoholkrankheit hinter sich hat. Was da vorgefallen ist, wird nicht näher ausgeführt. Mich schockierte nicht so sehr, dass sich da ein strahlender Marvelheld als trockener Alkoholiker entpuppte. Dafür war mir Stark in der Williams-Zeit doch zu wenig ans Herz gewachsen. Aber ich fühlte mich als Outsider, da ich nicht wusste, was er durchgemacht hatte und welche Auswirkungen diese Ereignisse auf seine gegenwärtige Situation hatten. Am Ende wird die Episode wieder etwas vertrauter. Der Titanium Man, der bereits in den Rächer-Zweitstorys des Eisernen aufgetaucht war, fordert Iron Man erneut zum Kampf und steht dabei am Ende ein wenig wie King Kong auf einem Hochhaus-Sims.

Iron Man war 1979 unter den Autoren David Michelinie und Bob Layton (der die Story auch inkte) einer weitreichenden Serienreform unterzogen worden (die Pencils steuerte hier Jerry Bingham bei, der dazu neigt, seinen Figuren entschieden zu kleine Köpfe zu geben). Mit deren Auswirkungen war ich hier konfrontiert. Es ist der Leserbriefseite („Printed Circuits“) deutlich abzulesen: Sie beschäftigt sich mit der Schlüsselepisode zu Starks Alkoholproblem, „Demon in a bottle“, # 128). Es war nicht Marvels erste Begegnung mit dem Thema Sucht, das war bekanntlich Harry Osbornes Drogenproblem, worauf Peter Parker unter Verzicht auf sein Spider-Man-Kostüm dessen Dealer auf offener Straße verprügelt. Aber auch hier hat die Selbstzerstörung eines Menschen (möglicherweise der erste Marvel-Titelheld) die Leser heftig bewegt: „I truly thought it was the most touching and realistic story I’ve seen in a long time“, schrieb einer, und eine Leserin (!) meinte: „Iron Man # 128 was so good it hurt, it hurt because I don’t like to see my hero’s failings. It hurts to see people I like hurting themselves like that.“ 
Mir blieb freilich ein solches Leseerlebnis versagt. Das wäre nur möglich gewesen, wenn ich “Iron Man” längere Zeit kontinuierlich gelesen hätte.

 
 

THE AMAZING SPIDER--MAN # 204

  
Diese Serie ist auf lange Sicht zweifellos die wichtigste bei Marvel, und sie war es auch für mich. Hier machte ich aber eine ähnliche Erfahrung wie bei Iron Man. Viel hatte sich verändert seit der letzten Wil-
liams-Ausgabe, "Die Spinne" #137 (das ist „Amazing Spider-Man“ # 136), obwohl sie nur etwa sechs Jahre zurücklag. Ich hatte „Die Spinne“ bei Condor weitergelesen, wo die vorliegende Ausgabe dann als # 49 erschien, aber dort gab es keine chronologische und lückenlose Veröffentlichung der Serie mehr. 
Außerdem war da noch das Problem des „fehlenden Jahres“. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Die Kab-
beleien der Spinne mit der Schwarzen Katze lassen sich auch ohne Vorkenntnisse ganz gut lesen. Aber in-
zwischen ist diese Episode ja nicht mehr neu, sondern nahe an die klassische Phase herangerückt, die man vielleicht mit dem Tod von Gwen Stacy abschließen könnte.

Damals, 1980, sah ich das ganz anders. Ich las von etlichen merkwürdigen Veränderungen, meist ohne ihren Grund oder Hergang zu erfahren: 
J. Jonah Jameson ist nicht mehr beim Daily Bugle, findet sich stattdessen verletzt in der Gosse wieder und hat sein Gedächtnis verloren, und der neue Chefredakteur Robbie Robertson scheint eine krankhafte Persönlichkeitsveränderung durchzumachen. Ich habe darauf verzichtet, bei Condor nachzuschauen, was dahintersteckt. 
Peter Parker wird von einer Studentin namens Dawn Starr angebaggert, wodurch ich erfuhr, dass er in-
zwischen als Dozent an der Uni arbeitet. Außerdem ist er offenbar als Fotograf zur Konkurrenz beim Daily Globe gewechselt, wo er mit einer Kollegin namens April Probleme hat. Spider-Mans Verhältnis zur Schwarzen Katze wird in einer raffinierten erotischen Schwebe gehalten. Allerdings erfährt man nicht, in welchen Verhältnissen Peter Parker zu dieser Zeit beziehungsmäßig überhaupt lebt.

Das alles wollte ich damals gern durchschauen, konnte es aber nicht. Dafür hätte ich zumindest „Amazing Spider-Man“ # 137 bis 203 lesen müssen, womöglich auch die neuen Serien „Peter Parker“ oder „Marvel Team-up“. „Web of Spider-Man“ war 1980 noch nicht gestartet. Mir wurde klar, dass man nicht einfach ein beliebiges Marvelheft zur Hand nehmen und sich unterhalten lassen konnte. Eine Ahnung dieses Problems konnte ich bereits zu Williams-Zeiten haben, wenn dort ein Crossover nicht funktionierte, weil eine Serie auf Deutsch nicht vorlag oder zeitversetzt erschien. Man muss zumindest ein Stückweit über der Marvelwelt stehen, dann kann man darauf verzichten, jede Feinheit im Privatleben der Protagonisten und jede Anspielung auf den Werdegang eines Helden zu verstehen. Das wollte ich aber nicht akzeptieren, da das Verfolgen dieser Feinheiten einen Gutteil des Lesevergnügens ausmacht. Ich musste einsehen, dass ich in bekannte Serien nach einer gewissen Pause nicht ohne weiteres wieder einsteigen konnte. 

„Spider-Man“ wurde inzwischen übrigens von Marv Wolfman geschrieben. Zeichner Keith Pollard hatte ich oben („Thor“) schon erwähnt. Ich mochte ihn auch hier nicht besonders. In meinen Augen völlig unnötig kopiert er immer wieder klassische Heldenposen von Steve Ditko, aber auch von Gil Kane. Auf der drittletzten Seite übernimmt Pollard ziemlich ungeniert die berühmte Szene aus „Amazing Spider-Man“ # 32, in der der Held unter tonnenschwerem Maschinenschrott begraben wird. Heute sehe ich das eher als bewusstes Zitat, einen Insidergag für Stammleser. Damals dachte ich, Pollard meine wohl, an die Vorlage erinnere sich sowieso niemand mehr, sodass er sich bedienen konnte. 
Jedenfalls hätte sicher schon damals ein Grafiker der Serie gut getan, der ihr einen völlig neuen Look verpasst hätte, jemand wie etwa Bill Sienkiewicz oder Frank Miller. Aber solche Leute konnte auch Marvel natürlich nicht aus dem Ärmel schütteln.
 
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FAZIT


Es hatte natürlich trotzdem seinen besonderen Reiz, Marvels einmal im Original vor sich zu haben. Erfreulicherweise konnte ich mit 15 Jahren schon so viel Englisch, dass ich beim Lesen einigermaßen mitkam. Es waren nicht die ersten US-Comics, die ich in die Hand bekam. Am Bahnhofskiosk meiner Heimatstadt waren sie zwar nicht vertreten, aber ich hatte kurz zuvor bereits einem G.I. (wie ich annehme) auf dem Flohmarkt einen dicken Stapel Hefte zu einem sehr günstigen Preis abgekauft. Das waren aber hauptsächlich Western- oder Kriegscomics gewesen, Produkte anderer Verlage wie DC oder Charlton oder Ausgaben exotischer Reihen wie „Deathlok the Demolisher“ (spannende Serie, damals von Rich Buckler gezeichnet). Die Mitbringsel meines Onkels waren für mich die erste richtige Begegnung mit Originalen der Serien, die ich kannte oder von denen ich gehört hatte und die mich interessierten.

Marvel-Comics des Jahres 1980 gehören sicher nicht mehr zum Silver Age, auch wenn die Dauer dieser Periode strittig ist. Manche verorten den Übergang bei der Preiserhöhung für Comic Books von 12 auf 15 Cent (1969), manche bei der Übernahme (an der der Beginn des Silver Age festgemacht wird) der DC-Serie „Green Lantern“ durch Denny O’Neil und Neal Adams oder dem Start der Serie „Conan“, der ersten bedeutenden Nicht-Superhelden-Serie seit den 60er Jahren (beides 1970). 
1980 ist aber aus heutiger Sicht nahe am Silver Age dran. Es war, wie bereits festgestellt, eine epigonale Phase, aber der Verlag war noch nicht durch sinkende Verkaufszahlen zu radikalen Serienreformen ge-
zwungen, die alte Fans häufig nicht mehr mitzumachen bereit sind. Ich lese heute die besprochenen US-Marvels fast so gern wie die aus meiner Williams-Sammlung – aus Nostalgie, aber auch, weil es sich für mich um insgesamt gut gemachte Unterhaltungsware handelt.

 
 
Peter L. Opmann, 21.12.2008
 
 
 
 

  ARTIKEL © 2008 Peter L. Opmann

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